Vortrag zu der a_ku Veranstaltung „Das besondere Bild“ 2021
Das Parlament brennt.
Erst wenige Jahre zuvor hat Großbritannien durch den Sieg über Frankreich den Grundstein zu einem weltumspannenden Imperium gelegt und nun durchziehen dichte Rauchschwaden die Hauptstadt London. Die zukünftige Weltmetropole wird an diesem 16. Oktober 1834 Schauplatz eines symbolträchtigen Ereignisses: Der Palast von Westminster, ursprünglich die Residenz der englischen Könige und nun der Sitz des als Parlament zusammengefassten Ober- und Unterhauses, wird durch einen Großbrand fast vollständig zerstört. Während sich die Flammen in der Themse spiegeln, betrachten auf der anderen Seite Tausende Londoner die Auflösung der herrschaftlichen Architektur durch die Naturkräfte. Auch der Maler William Turner steht am Ufer der Themse und hält das Schauspiel der Zerstörung, diesen Akt aus Licht und Rauch, in schnell gezeichneten Skizzen fest.
Der fast 60-jährige Joseph Mallord William Turner ist zu diesem Zeitpunkt einer der renommiertesten Landschaftsmaler Großbritanniens und Mitglied der Royal Academy. Die Bedeutung Turners ist aber nicht nur auf seinen historischen Kontext beschränkt. Gerade in der Rückschau steht er für einen Epochenwechsel, der sich in seinem Werk vollzieht und ihn zu einer Schlüsselfigur der europäischen Malerei macht.[i]
Lassen sich seine frühen Arbeiten noch recht eindeutig dem Kanon der romantischen Landschaftsmalerei zuordnen, grenzen sich seine späteren Werke, vor allem nach der Aufgabe seiner Lehrtätigkeit als Professor für Perspektivdarstellung, deutlich von einer Gegenständlichkeit der Darstellung ab und rücken vermehrt atmosphärische Phänomene in den Vordergrund. Figuren und Motive lösen sich auf in einem Meer von Farben und Flächen, bei denen nicht mehr die Darstellung des vermeintlich Objektiven das Thema ist, sondern in denen die subjektiv-sinnliche Erfahrung und die Wiedergabe von ephemeren Zuständen zum Leitgedanken werden. Tauchen in seinen späteren Werken noch Objekte auf, wie zum Beispiel die Eisenbahn als Motiv der zeit seines Lebens sich vollziehenden Industriellen Revolution, liegt der Fokus nicht auf deren Gegenständlichkeit, die mit ein paar groben Pinselstrichen angedeutet wird, sondern auf der Wiedergabe von Rauch, Nebel und Geschwindigkeit, die jede klare Abgrenzung der Bildmotive überdecken.[ii] Auch das Bild, das den Rahmen für diesen Essay bildet, lässt sich dieser späteren Phase zurechnen. Die Skizzen, die Turner an diesem Tag anfertigt, bilden die Grundlage für zwei mit „The Burning of the Houses of Lords and Commons, October 16, 1834“ gleich betitelte Ölgemälde, von denen das zweite, Ende 1835 veröffentlicht, für mich etwas Besonderes ist.[iii]
Der Umstand, dass dieses Bild für mich persönlich so bedeutend ist, entspringt dabei keinem akademischen – keinem vermessenden, analysierenden oder interpretierenden Zugang –, sondern der simplen, unvoreingenommenen Wahrnehmung, die in dem Gefühl `schön´ ihren Ausdruck findet. Zuerst bemerkt als Jugendlicher – im Rahmen einer Ausstellung, die sich der mittlerweile als Ikone inszenierten Person William Turner widmete –, wurde es als Poster an der Wand vor meinem Arbeitsplatz mein täglicher Begleiter. Was genau mich daran ursprünglich berührte – das Zusammenspiel der Farben oder die Ausgewogenheit der Komposition –, lässt sich, da es ein Akt der unbewussten Zuwendung war, nicht rekapitulieren. Die Gegenstandslosigkeit der Malerei allerdings, bei der es ohne Kenntnis des Titels wohl schwer zu erraten ist, was eigentlich auf dem Bild dargestellt sein soll, wurde zu einer Projektionsfläche für meine Stimmungen und Gedanken. Je nach Gefühls- und Gedankenlage erschienen neue Formen, Zusammenhänge, ja vielleicht sogar Motive, die vorher unbemerkt oder gar nicht existent, sich in dem Raum zwischen den Farben an der Wand und meiner Wahrnehmung manifestierten. Erscheinungen die objektiv keinen Gehalt hatten, sich nicht als Gegenstand oder Bildmotiv erfassen ließen, aber trotzdem „da“ waren und durch ihre subjektive Existenz die Frage aufwarfen, was das eigentlich ist, was wir in Bildern zu sehen glauben.
Hinter dieser scheinbar simpel anmutenden Frage verbergen sich ein großes erkenntnistheoretisches Dilemma und eine durchaus welterschütternde Einsicht, wenn man sie erst einmal durchdrungen hat. Es ist unstrittig, dass in der Welt unserer Wahrnehmung, die Dinge die uns erscheinen nicht das sind „wie sie eigentlich sind“, sondern das Ergebnis einer geistigen Hypothesenbildung darstellen. Im Akt der Wahrnehmung errechnet der Verstand, größtenteils unbewusst, aus den zahlreichen Informationsreizen der Wahrnehmungsorgane ein Bild unserer Umwelt.[iv] Im Geist entsteht eine Simulation, die in einem ständigen Verifikationsprozess zu neuen Reizen steht und uns die Umgebung als eine Welt präsentiert, in der das „Ich“ mit dem, was es umgibt, in Verbindung gesetzt werden kann. Dieser Akt ist dabei Verarbeitung und Interpretation zugleich.[v] Die Verbindung von Induktion und Projektion, in der Reize durch die Perspektive, anhand derer sich das Ich in der Umgebung positioniert, eine Form, einen Gehalt oder einen „Sinn“ erhalten.[vi] Vereinfacht gesagt sehen wir die Welt durch eine strukturierende Brille, die wir bewusst oder unbewusst aufsetzen.
Diese Erkenntnis erhält zusätzlichen Gehalt, wenn es um den Aspekt der Gestaltung ebendieser Welt geht. Vor allem im Architekturschaffen zeigt sich dieses wie unter einem Brennglas. In gegenwärtigen Gestaltungsprozessen ist Architektur überwiegend eine Auseinandersetzung mit visuellen Phänomenen, die – in welcher Form auch immer – auf Computermonitoren erscheinen. Aber egal wie real diese durch Computerprogramme simulierten Formen auch anmuten können: Sie sind nur im Geist existent. Das Arbeiten an und mit dem Bildlichen ist nicht wie bei Turner, dessen Akt des Malens ein haptischer und körperlicher war, ein physischer, sondern ein Eintauchen in die ephemeren Wechsel von Licht und Farbe; beides die einzigen Kategorien, die von den Monitoren real wiedergegeben werden. Die vermeintlichen Formen entstehen dabei rein subjektiv; erst aus der Perspektive, aus der auf dieses Lichtermeer geschaut wird, beziehungsweise aus den zugrunde liegenden technischen Relationen, die diese Eindrücke hervorbringen.[vii]
Die Basis für diese Relationen, die in den „Weltensimulatoren“ der digitalen 3D-Technik ihren gegenwärtigen Höhepunkt finden, liegt in der systematischen und kategorisierenden „Vermessung der Welt“. Ein Phänomen wie die Sonne erscheint in ihr nicht als ein atmosphärisch durchdringendes Etwas, sondern als ein im 3D-Raum eindeutig positionierter Punkt, der, bestimmt durch genau definierte Parameter, mit anderen, ebenso klar abgegrenzten Punkten in einem Zusammenhang steht. Im Vergleich zum Analogen, das theoretisch unendlich viele Informationen ganzheitlich verbindet, ist dies das bestimmende Merkmal digitaler Technik: Einzelne Informationen werden eindeutig definiert und abgegrenzt voneinander als Platzhalter für ein Etwas in Relation zueinander gesetzt. Die Welt des Digitalen ist damit eine Welt der absoluten Definitionen und Grenzziehungen. Eine Welt, die vordefiniert ist durch die Perspektive eines klaren Rasters, das konstituierend für ihre Erscheinungen ist. Eine Perspektive als mitunter unbewusste Denkform, in der auch der Prozess des Architekturschaffens sich tendenziell zu einem Auswahlprozess scheinbar objektivierter Einzelentscheidungen wandelt.[viii] Am Ende steht dann ein einsamer Baum in einer durch Agglomeration geprägten Baustruktur als scheinbar objektives Zeichen für die Kategorie „Natur“. Die Ganzheitlichkeit einer Weltwahrnehmung verschwindet so tendenziell hinter den angeblich klaren Definitionen ihrer Erfassung, die sich im Prozess der Gestaltung wiederum in die Welt prägen und so die strukturelle Logik des Digitalen in der wahrgenommenen Welt scheinbar bestätigen.
Fast ironisch mutet es dabei an, dass der Grund für den Brand des Parlamentsgebäudes 1834 mit einer solchen strukturiert-analytischen Erfassung und Gestaltung der Welt zusammenhängt. Da es auch Sitz des Finanzministeriums war, diente es als zentrales Lager für auf Kerbhölzern objektiv festgehaltene Schuld- und Rechnungsverhältnisse. [ix] Die unsachgemäße Verbrennung dieser Datensammlung führte zu dem Ereignis, in dessen Folge der alte königliche Palast als bauliches Zeichen der Entropie anheimfiel und so Platz machte für ein neues architektonisches Zeichen: das Parlament und seinen ikonischen Turm, der durchaus als Symbol für eine technische und vermessende Perspektive auf die Welt gesehen werden kann, die in der Folge des 19. Jh. wesentlich durch das weltumspannende britische Empire getragen wurde. Unabhängig vom historischen Gehalt ist damit das Werk, das Turner aus diesem Brand schuf, eine ständige Erinnerung daran, dass alle vermeintlich klaren Prägungen und Definitionen der Welt immer auch in einem umfassenden Wechselverhältnis gesehen werden müssen. Die scheinbare Präzision der digitalen Erfassung und Gestaltung steht somit immer auch einem Akt der Wahrnehmung und Aneignung gegenüber. Das Bild als solches, welches als gefasste Perspektive immer ein Abbild von Etwas ist, verweist somit indirekt auf den ganzheitlichen Zusammenhang, der sich zwischen Subjekt und Objekt als stetiger Akt des Werdens ausdrückt und in einem umfassenderen Architekturverständnis, das sich nicht in den scheinbaren Definitionen und den von ihr erzeugten Abbildern erschöpft, sondern sich diesen Prozess der Welt-Werdung widmet, seine Form finden könnte.
[i] Vgl. Monika Wagner, William Turner, München: C.H. Beck 2011, 7, 103
[ii] Vgl. Ibid., 90-97
[iii] Vgl. https://www.clevelandart.org/art/1942.647 (abgerufen am 17.02.2023)
[iv] Vgl. Rainer Bösel, Wie das Gehirn »Wirklichkeit« konstruiert. Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens, Stuttgart: W. Kohlhammer 2016, 19
[v] Vgl. Ibid., 10
[vi] Vgl. Gerhard Roth, Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Stuttgart: Klett-Cotta. 2014, 240
[vii] Vgl. Marcus Burkhardt, Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data, Bielefeld: Transcript 2015, 97 | Vgl. Timothy Scott Barker, Time and the Digital. Connecting technology, aesthetics, and a process philosophy of time, Hanover: Dartmouth College Press 2012, 35
[viii] Vgl. Imdat As, Daniel L. Schodek, Dynamic digital representations in architecture. Visions in motion, London [u.a.]: Taylor & Francis 2008, 5 | Vgl. Oliver Grau, Virtual art. From illusion to immersion, Cambridge, Mass: MIT Press 2003, 256 | Vgl. Tor Lindstrand, Everydayness, in: Stephan Doesinger (Hrsg.), Space between people. How the virtual changes physical architecture, München [u.a.]: Prestel 2008, 135
[ix] Vgl. Werner Busch, Turner und der Brand des Londoner Parlaments, in Vera Fionie Koppenleitner, Hole Rößler, Michael Thimann (Hrsgg.), Urbs incensa. Ästhetische Transformationen der brennenden Stadt in der Frühen Neuzeit, Berlin: DKV 2011, 165
Abb. 1 The Burning of the Houses of Lords and Commons, 16 October 1834, 1835. Joseph Mallord William Turner, The Cleveland Museum of Art, https://www.clevelandart.org/art/1942.647